Am 1. Juni 2012 präsentierte die Stiftung erstmalig in den museumseigenen Räumen im Bestehornpark eine Auswahl grafischer Werke des in Leipzig lebenden Künstlers Neo Rauch. Nunmehr feiern wir 2022 das zehnjährige Jubiläum mit einer ganz besonderen Ausstellung NEO RAUCH Der Bestand Druckgrafik seit 1988. Erstmals werden alle druckgrafischen Arbeiten des Leipziger Künstlers aus den Jahren 1988 bis 2022 in einer umfassenden Schau der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ausstellung umfasst 150 Lithografien, Radierungen und Siebdrucke, welche auf faszinierende Weise die Entwicklung der künstlerischen Bildsprachen wie auch die verwendeten Techniken im grafischen Schaffen des Künstlers aufzeigen.
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums erscheint im E. A. Seemann Verlag ein hochwertiger Katalog zum grafischen Werk des Künstlers von 1988 bis 2022. Dieser ist ab 1. Juni 2022 in der Grafikstiftung erhältlich:
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Wir bedanken uns für die Förderung der Ausstellung und des Kataloges bei der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Salzlandsparkasse für die Unterstützung.
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Neo Rauch, Der Hergang, 2020, 77 x 56 cm (Blatt), 70 x 51 cm (Motiv), Vierfarbige Tuschelithografie auf Hahnemühle Alt Worms, Auflage 35, Lithographisches Atelier Leipzig, Foto: Uwe Walter, Berlin; courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin; David Zwirner; © Neo Rauch, VG Bild-Kunst, Bonn 2022.
Wolfgang Büscher
Rede zur Eröffnung „Der Bestand“ in Aschersleben am 1. Juni 2022
Lieber Neo,
Zeit vergeht. Auf den Tag genau vor zehn Jahren standen wir hier, als das begann, was jetzt so üppig gedeiht. „Der Bestand“ heißt diese Gesamtschau Deines graphischen Werks, und man kann das ganz sachlich verstehen im Sinne einer Inventur – das, was eben entstanden ist im Laufe der Zeit. Man kann es aber auch als Feier dessen begreifen, was Bestand hat.
Was hat denn Bestand? Etwas, das nicht zerrinnt, das sich nicht irrlichternd in alle Richtungen verliert. Für ein sehr verspieltes, aufgelöstes Verständnis von Kunst klingt das vielleicht etwas kunstfeindlich. Aber einen Mangel an Verspieltheit, an Lust am Streunen, an Traum und Traumgestalten – das kann man Neo Rauch nun wirklich nicht nachsagen. Die Frage nach dem Bestand ist: Hat ein Werk einen Kraftpol? Einen Atem, einen Puls, das gewisse Eigene, das man nicht immer gleich in Worte zu fassen weiß, steht man davor. Aber man spürt, es ist da. Es zieht einen in seinen Bann.
Was ich so faszinierend finde beim Durchgang durch diese Blätter aus unglaublichen fünf Jahrzehnten, ist genau das. Wir sehen ein Leben in seiner Fülle, das des Künstlers und faszinierender noch: seiner Kunst. Deine Graphik war anders in ihren Anfängen, und doch war schon alles da, was Dich ausmacht. Es nahm sich bloß Zeit, sich zu entpuppen. Du selbst, Neo sagst über Deine Anfänge, es sei ein Suchen gewesen nach dem Dir gemäßen, eigenen künstlerischen Weg. Du habest manches ausprobiert und wieder verworfen, links liegenlassen.
Ja, das mag der Künstler selbst so erinnern. Ich als Betrachter habe das Privileg, diese Erinnerungen nicht zu haben, an den inneren Kämpfe des jungen Künstlers nicht teilgenommen zu haben. Ich schaue mir das einfach an, gerade die Anfänge, und stehe staunend vor einem Werk, das Züge einer verrätselten Schöpfungsgeschichte hat – ein Rätsel, das sich dann selber löst.
– 1988, eine Zeit, unserer heutigen Zeit unendlich fern. „Fische“ heißt ein ganz frühes Blatt aus diesem Jahr. Ein Kopf, schwarz-weiß, ein halbgesichtiges Menschengesicht. Da will etwas zur Welt kommen, Gestalt annehmen.
– Aus demselben Jahr ein Mensch, ein ganzer nun, aber offenbar kommt er mit der Zeit, in die er hinauswill, hinaussoll, nämlich in die vermessene Zeit – schön doppeldeutig, die vermessene Zeit, die Vermessenheit der Zeit – offenbar kommt er mit dieser Zeit nicht gut zurecht. Wie gefesselt schwebt er in ihren Kabeln oder auch Ganglien.
– Dann, ein Jahr später, im magischen Jahr 1989 eine Mappe: „Die Reise“. Wieder so eine verpuppte Gestalt, ein ungeborener Menschling, dem seine Ausfaltung ins Leben nicht recht gelingt. „Fluglahm“ heißt das Blatt. Dann aber doch: „Sonne im Blut“ – eine Detonation des Lebens. Und dann „Flug“ – na also, es geht doch, die Dinge geraten ins Fliegen, ins Schweben, die Fluglähme, die Erdenschwere fällt ab. Das Blatt erinnert mich an einen Traum, in dem ich fliegen konnte. Es war überhaupt nicht schwer, ich musste nur eine ganz einfache Bewegung mit dem ganzen Körper immer wiederholen, dann flog ich. Nicht zu fassen, wie einfach es war. Aber noch ungewohnt, ich flog ungeschickt, nicht elegant, aber ich flog.
– 1990 geht Neo „fußlahm“, so heißt sein Blatt, nach Hamburg. 13 Blätter von 13 Künstlern aus der DDR kommen dort an, „aus der NOCH anderen Republik“, wie es auf dem Plakat der Ausstellung etwas verwundert heißt. Im selben Jahr ist Neo „unterwegs“ – so der Titel – nach Linz.
– Dann die zwei Solitäre im Werk, „Ernst R.“ und „Horst W.“, Zwei erzdeutsche Namen, zwei Köpfe in Schwarz-Weiß. Ernst R. hat etwas Verschlossen-Verriegeltes, Horst W. etwas Verpupptes, geradezu Embryonales. Wer je die Geburt seines Kindes erwartet hat, mag, das Blatt betrachtend, die embryonale Gestalt wiedererkennen, die er oder sie von Ultraschallbildern kennt.
– Dann explodiert alles. In den neunziger Jahren treten die Dinge, die Zustände, die Figuren aus dem embryonalen Geschehen heraus. Und es wird Farbe. Noch eine persönliche Assoziation, diesmal kein Traum, jedenfalls kein nächtlicher. Als Kind saß ich vor dem Schwarz-Weiß-Westfernseher und sah zu, wie dieser geheimratseckige Mann auf einen großen dunklen Knauf drückte – und er ward rot. Also der Knauf, nicht der Mann – der eben noch schwarz-weiße Fernsehschirm wurde bunt. Es war die Sekunde, in der das Farbfernsehen begann, und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Der Geheimratseckige war Willy Brandt.
– Ähnlich staunend wie der Junge, der ich damals war, vor dieser Verwandlung saß, stehe ich heute vor diesem Werk, diesem Weg, vor seiner inneren Logik. Und dieses Staunen ist am tiefsten angesichts der Anfänge. Denn schon in ihnen ist der Geist Deines reifen Werks.
– Unsere Gespräche kreisten oft um Ränder. Ränder von Städten, Ränder des vernünftigen, ganz und gar erklärbaren, fast maschinellen Tuns und Treibens der Menschen. Ränder des Wachseins. Jene Zonen, in denen die Dinge verschwimmen, in denen sich Traum und Wirklichkeit berühren, in denen man nicht mehr weiß, was tun diese Figuren, die diese Zone bewohnen, eigentlich so ganz genau? Diese Arbeiter etwa, die wir auf einem unserer Gänge um Aschersleben herum sahen, die scheinbar zwecklos vor ihrer stillen Fabrik herumstanden – ist es bloß eine Rauchpause oder sind sie aus einer Zeit, einem Zustand gefallen, in dem sie einst begreifbare, erwartbare Dinge taten?
– Das alles sehe ich schon in Deinen Anfängen. Nun muss ja der Künstler selbst nicht genauso irrlichtern wie seine Figuren. Er sollte es auch nicht. Als Zirkusdirektor sollte er seine Manege halbwegs im Griff haben. Das hast Du weitgehend. Und so macht Deine Suchbewegung der frühen Jahre eben nicht den Eindruck eines konfusen Herumirrens, was nicht ausschließt, dass der Künstler als junger Mann sich mit seinem Weg, seinen testenden Schritten und Gesten abquälte.
– Es gibt reife Künstler, die ihre Anfänge als Jugendsünden abtun, als eine Zeit der Wirrnis. Die das wegschließen und ausmustern. Lieber Neo, das hast Du nicht nötig. Bei Dir wirkt das alles eher wie eine gelungene Metamorphose – und in solchen Schöpfungsgeschichten geht es anfangs nun mal rau zu und ungestalt. Aber allmählich treten daraus Gestalten hervor, die uns, die wir das reife Werk kennen, vertraut vorkommen, denen wir wiederbegegnen. Dein Bestand, Neo, ist wirklich einer. Es ist die von den Anfängen her sich verwandelnde Evolution Deines Lebenswerks. Es heißt Bestand, weil es standhält, weil es Bestand hat. Und siehe, es ist gut.